Dissertationsprojekt Henrik Ossadnik

AG Didaktik der Mathematik (Sekundarstufen)

Kernideen zu Hypothesentests vorstellungsbasiert entwickeln

Stochastische Grundbildung, also die Fähigkeit, Daten und Statistiken im Alltag und im Rahmen wissenschaftlicher Forschung verstehen und kritisch hinterfragen zu können, gewinnt zunehmend an Bedeutung (Ben-Zvi & Garfield 2004; Gal 2002).

Trotz langjähriger Forderungen, den Schwerpunkt des schulischen Stochastikunterrichts zur Ausbildung stochastischer Grundbildung, zur alltagsrelevanten Leitidee „Daten“ (vgl. Krauss et al. 2020) und dem Anbahnen von Inferenzstatistik zu verschieben (AK Stochastik 2003; KMK 2012), konzentriert sich der Unterricht trotzdem häufig noch auf die Durchführung von Verfahren und Berechnungen (McNamara 2015; Garfield et al. 2015). Diese Kalkülorientierung vernachlässigt aber die notwendige und möglichst frühzeitig angedachte Ausbildung statistischer Kompetenzen (Hidayati et al. 2020; vgl. Gal 2002) und eines grundlegenden Verständnisses statistischer Inferenz. In Kombination kann so auch ein Beitrag im Sinne einer Wissenschaftspropädeutik geleistet und schlechte wissenschaftliche Praxis und Scharlatanerie vermieden werden (bspw. p-Hacking) (vgl. Wasserstein et al. 2019).

Der Kern jeder statistischen Untersuchung besteht darin, Daten zu analysieren und über deren Aufbereitung hinaus Schlussfolgerungen zu ziehen. Das umfasst ebenfalls die Grundzüge statistischer Inferenz, also unter Verwendung von Stichprobeninformationen Schlüsse über die Grundgesamtheit zu ziehen. Obwohl diese Idee inhaltlich zunächst sehr naheliegend erscheint, stellt sich die Interpretation der erhaltenen Ergebnisse Interpretation als äußerst komplex dar. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie Lernende – infolge des vorherrschenden Kalküls in der Schule – ohne fundiertes Grundlagenwissen und inhaltliche Vorstellungen zu grundlegenden Konzepten der Stochastik, inferenzstatistische Methoden verstehen, schlussfolgerndes Denken ausbilden und angemessene Vorstellungen dazu entwickeln sollen.

Um diese Vielschichtigkeit und Komplexität schlussfolgernden Denkens bereits früh im Sinne eines spiralcurricularen Ansatzes zu adressieren und formal statistisches Schlussfolgern anzubahnen, wurde unter dem Begriff informal inferential reasoning eine Vorläuferform zur frühen Förderung statistischen Schlussfolgerns und des Verständnisses inferenzstatistischer Methoden vorgeschlagen. Dabei geht es darum auf einem informellen Niveau a) Aussagen zur Verallgemeinerung über die Daten hinaus jedoch ohne den Einsatz formal statistischer Methoden zu ziehen, b) die Daten dabei als Beleg zu verwenden, und c) probabilistische Sprache, die Unsicherheit über die Verallgemeinerung ausdrückt, zu verwenden (Makar und Rubin 2009).

Inferenzstatistischen Denken am Beispiel des Hypothesentests

Wird unter Berücksichtigung dieses Ansatzes der Hypothesentest exemplarisch für eine solche inferenzstatistische Methode betrachtet, können wichtige Aspekte des schrittweisen Hinführens vom informellen zum formalen Denken daran festgemacht werden. Gleichzeitig drängt sich auch folgende bereits angedeutete Frage auf: Was muss vorbereitet sein, sodass Lernende (1) ein fundiertes Verständnis für Hypothesentests entwickeln, (2) deren Möglichkeiten und Grenzen erfassen, (3) deren Möglichkeiten und Grenzen reflektieren und (4) diese adäquat interpretieren können. Denn obwohl Hypothesentests in den empirischen Wissenschaften zur Absicherung theoretischer oder explorativ gewonnener Vermutung über einen Gegenstandsbereich weit verbreitet ist, gibt es z.T. gravierende Fehlvorstellungen und inadäquater inhaltlicher Deutungen zu Hypothesentests bei unterschiedlichsten Personengruppen (vgl. Sotos et al. 2007; Krishnan & Noraini 2015; Haller & Krauss 2002). Auch die Bedeutung einzelner statistischer Werte wird demzufolge oft deutlich überschätzt (Wasserstein et al. 2019).

Forschungsplan

Mit dem vorrangigen Ziel, ein tragfähiges inhaltliches Verständnis zum Hypothesentesten auszubilden und so einen wichtigen Beitrag zu stochastischer Grundbildung zu leisten, untergliedert sich das Forschungsvorhaben in zwei aufeinander aufbauende und miteinander vernetzte Phasen.

Forschungsphase 1 beschäftigt sich mit der Forschungsfrage, welche Kernideen notwendig sind, um ein inhaltliches Verständnis von Hypothesentests auszubilden. Zur Identifikation solcher Kernideen erfolgt zunächst eine theoretische Dekonstruktion des Hypothesentests basierend auf einer ausführlichen Literaturrecherche. Anhand einer beispielhaften Identifikation und einer detaillierten Konzeption des Begriffs „Kernidee“, werden weitere relevante Kernideen identifiziert und deduktiv hergeleitet. Durch eine Expertenbefragung sollen anschließend die hergeleiteten Kernideen abgesichert, wenn nötig angepasst und so ein Konsens der Expert:innen, die sich aus Fachdidaktiker:innen, Fachstatistiker:innen und Lehrkräften (bzw. Bindegliedern zwischen Universität und Schule) zusammensetzen, generiert werden. Abschließend sollen die ermittelten Kernideen durch einen Fragebogen für Studierende, der in verschiedenen Veranstaltungen des Lehramtsstudiums Mathematik und anderen Studiengängen eingesetzt wird, auch empirisch bestätigt werden. Geplant ist dazu verschiedene Items aus bestehenden Testinstrumenten zusammenzustellen, eine Zuordnung der einzelnen Items zu den Kernideen vorzunehmen und aus den Daten Korrelationen zwischen verschiedenen Items nachzuweisen.

In Forschungsphase 2 sollen exemplarisch zu einer oder mehrerer der herausgearbeiteten Kernideen passende Elemente selegiert bzw. entwickelt werden, die zu entsprechenden Lernumgebungen komponiert werden. Durch eine qualitative Evaluation der Lernumgebungen mit Kleingruppen wird auf Basis von Thinking-out-loud-Interviews und den Videos der Gruppenarbeitsprozesse rekonstruiert, ob durch die Lernumgebungen die angedachten Kernideen adressiert werden können. Im Sinne eines design-based-research-Ansatzes können die evaluierten Lernumgebungen somit als Teil einer Lösung zur didaktischen Herausforderung aufgefasst werden, Hypothesentests inhaltlich zu verstehen.

Persönliche Motivation

Aus heutiger Perspektive habe ich insbesondere im Themengebiet der Stochastik zu wenig verstehensorientierten Unterricht selbst erfahren. Ich brachte mir daher viel autodidaktisch und selbst bei. Das führte zwar dazu, dass ich die verschiedenen Aufgabentypen rechnen konnte - also das „Kalkül“ verinnerlicht hatte, jedoch bis zuletzt nicht verstanden habe, was dort genau passiert bzw. was ich warum tue. Wahrscheinlich habe ich damals auch nie wirklich verstanden, warum ich sowas brauchen könnte, was ein Hypothesentest ist oder welche Aussagekraft er besitzt. Erst im Studium konnte ich inhaltlich deutlich besser zugreifen und vor allem die Wichtigkeit für die wissenschaftliche Forschung und das Verständnis alltäglicher Sachverhalte kennenlernen. Mir ist es daher ein Anliegen, an dieser Stelle zur Weiterentwicklung des Stochastikunterrichts der Schule beizutragen.

Literatur

Arbeitskreis Stochastik der GDM (2003): Empfehlung zu Zielen und zur Gestaltung des Stochastikunterrichts. In: Stochastik in der Schule 23 (3), S. 21–26. Online verfügbar unter www.stochastik-in-der-schule.de/sisonline/struktur/jahrgang23- 2003/heft3/Langfassungen/2003-3_ak-empfehl.pdf, zuletzt geprüft am 26.02.2024.

Ben-Zvi, D. & Garfield, J. (2004). Statistical Literacy, Reasoning and Thinking: Goals, Definitions, and Challenges. In D. Ben-Zvi & J. Garfield (Hrsg.), The Challenge of Developing Statistical Literacy, Reasoning and Thinking . Springer Science + Business Media Inc. 3-16.

Gal, I. (2002). Adults’ Statistical Literacy: Meanings, Components, Responsibilities. International Statistical Review / Revue Internationale de Statistique, 70(1), 1–25. https://doi.org/10.2307/1403713

Garfield, J., Le, L., Zieffler, A., Ben-Zvi, D. (2015): Developing students’ reasoning about samples and sampling variability as a path to expert statistical thinking. Educ Stud Math, 88(3), 327–342. https://doi.org/10.1007/s10649-014-9541-7

Haller, Heiko; Krauss, Stefan (2002): Misinterpretations of significance: A problem students share with their teachers? In: Methods of Psychological Research 7.

Hidayati, N. A., Waluya, S. B., Rochmad; Wardono (2020): Statistics literacy: what, why and how?. Journal of Physics.: Conference Series. 1613(1), S. 12080. https://doi.org/10.1088/1742-6596/1613/1/012080

KMK (2012): Bildungsstandards im Fach Mathematik für die Allgemeine Hochschulreife: (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012).

Krauss, S., Weber, P., Binder, K., Bruckmaier, G., & Hilbert, S. (2020). Zur Propädeutik des Hypothesentestens in der gymnasialen Oberstufe – Die Diskrepanz zwischen schulischem Stochastikunterricht und tatsächlicher Anwendung. In: Weber, P. (Hrsg.), Wie gut bereitet der Stochastikunterricht auf Alltag, Studium und Berufsleben vor? (S.96-142). https://doi.org/10.5283/epub.43330

Krishnan, Saras; Idris, Noraini (2015): An Overview of Students’ Learning Problems in Hypothesis Testing. In: JPEN 40 (2), S. 193–196. DOI: 10.17576/JPEN-2015-4002-12.

Makar, K., & Rubin, A. (2009). A Framework for thinking about informal statistical inference. Statistics Education Research Journal, 8(1). 82-105

Sotos, C., Vanhoof, S., Noortgate, W., & Onghena, P. (2007). Students’ misconceptions of statistical inference: A review of the empirical evidence from research on statistics education. Educational Research Review, 2(2), 98-113. doi.org/10.1016/j.edurev.2007.04.001

Wasserstein, R. L., Schirm, A. L., & Nicole, A. L. (2019). Moving to a World Beyond “p < 0.05”, The American Statistician, 73(1), 1-19. https://doi.org/10.1080/00031305.2019.1583913