Dissertationsprojekt Christoph Pfaffmann

AG Didaktik der Mathematik (Sekundarstufen)

Computergestützte Diagnose von Lernprozessen beim funktionalen Denken

Der Einfluss digitaler Technologien auf die Alltags-, Arbeits- und Schulwelt führt über rein technische Innovationen hinaus auch zu kulturellen und gesellschaftlichen Änderungsprozessen. Dies wirkt sich auch auf das schulische Lehren und Lernen aus (Sekretariat der Kultusministerkonferenz [KMK], 2021). Digitale Medien und digitale Werkzeuge lösen dabei analoge Alternativen nicht nur teilweise ab, sondern ermöglichen auch neue Perspektiven in so unterschiedlichen Bereichen wie der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft (KMK, 2017).

So könnte der Einsatz digitaler Diagnosewerkzeuge in der pädagogischen Diagnostik zu einer Abschwächung des Häufigkeit-Genauigkeit-Dilemmas führen. Ingenkamp und Lissmann (2008, S. 33) beschreiben dieses Dilemma bei dem Versuch Ergebnis- und Prozessdiagnostik voneinander abzugrenzen und stellen heraus, dass die Prozessdiagnostik auf Messmethoden der Ergebnisdiagnostik zurückgreift. Sie argumentieren, dass Prozesse nur durch häufig aufeinander folgende Messungen erfasst werden können. Um Störeinflüsse durch die Messvorgänge zu reduzieren, können zur Prozessdiagnose nur Kurzzeitbeobachtungen, wenige Fragen oder kurze Aufgaben verwendet werden. Dadurch müssen diagnostische Einbußen an Reliabilität und Validität in Kauf genommen werden. Je höher die Anzahl der Messvorgänge ist, desto kürzer muss die Messung sein und desto geringer sind Reliabilität und Validität.

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass dieses Dilemma auch bei der Diagnose von Lernprozessen zum funktionalen Denken berücksichtigt werden muss. Eine Möglichkeit, das Problem der Messungenauigkeit aufgrund zu häufiger Interventionen zu reduzieren, könnte in der Analyse von beim Arbeiten mit digitalen Mathematikwerkzeugen indirekt erhobenen Prozessdaten liegen. Junco und Clem (2015) bezeichnen das Messen, Aufzeichnen, Analysieren und Auswerten von Prozessdaten mithilfe von Bildungstechnologien als Learning Analytics. Im Gegensatz zu einer unterbrechenden Messmethode werden die Daten unauffällig, im Hintergrund und ohne gesondertes Zutun der Schüler*innen erhoben. Die Datenerhebung und -auswertung kann dabei häufig in Echtzeit erfolgen, sodass Lehrer*innen die Möglichkeit haben, frühzeitig Einblicke in individuelle Lernprozesse zu erhalten, um dadurch gezielt Maßnahmen zur Förderung zu ergreifen. Mit Hilfe von Expertenmodellen, die für den Echtzeitabgleich von Prozessdaten notwendig sind, können so prädiktive Diagnosen gestellt werden.

In diesem Forschungsprojekt, soll untersucht werden, inwieweit ein digitales Mathematikwerkzeug zur Erhebung handlungsbezogener Prozessdaten eingesetzt werden kann, um Lernprozessdiagnostik im Kontext des funktionalen Denkens (vgl. Greefrath et al., 2016, S. 69) zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund dieser Zielebene ergeben sich folgende Forschungsfragen.

Welche Mathematikaufgaben aus dem Bereich des funktionalen Denkens sind geeignet, um handlungsbezogene Prozessdaten zu erheben?

Wie äußern sich Denkprozesse bei der Bearbeitung von Mathematikaufgaben in Handlungen mit digitalen Mathematikwerkzeugen?

Wie muss eine Prozessdatenerhebung gestaltet sein, damit aus Handlungen auf Denkprozesse geschlossen werden kann?

Wie lässt sich auf der Basis von erfassten Denk- und Handlungsprozessen ein Expertenmodell entwickeln, das eine Echtzeitdiagnose von Schülerleistungen ermöglicht?

Deckt sich die automatisierte Diagnose der Handlungen von Schüler*innen mit deren Eigendiagnose?

Deckt sich die automatisierte Diagnose der Handlungen von Schüler*innen mit Expertenanalysen?

Welche Möglichkeiten der Prozessdatenerfassung muss ein digitales Mathematikwerkzeug bieten, um eine Lernprozessdiagnose zu ermöglichen?

Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage werden Experten gebeten, ihre Denkprozesse bei der Bearbeitung offener Mathematikaufgaben zum funktionalen Denken zu verbalisieren. Mit Hilfe qualitativer Analysemethoden werden die Denkprozesse anschließend kategorisiert. Aus dem Kategorienpool sollen dann alle Denkprozesse gefiltert werden, welche mit Handlungen in Verbindung stehen. Für besonders ergiebige Aufgaben wird anschließend ein Expertenmodell entwickelt, welches als Grundlage für die Lernprozessdiagnostik benötigt wird. Die Güte der Diagnose wird über den Vergleich mit Selbst- und Expertendiagnosen überprüft. Zur Verallgemeinerung der Ergebnisse wird festgehalten, welche Schnittstellen ein digitales Mathematikwerkzeug mitbringen muss, sodass eine Lernprozessdiagnose mittels Prozessdaten erfolgen kann.

 

Literaturverzeichnis

Greefrath, G., Oldenburg, R., Siller, H.‑S., Ulm, V. & Weigand, H.‑G. (2016). Didaktik der Analysis: Aspekte und Grundvorstellungen zentraler Begriffe. Mathematik Primarstufe und Sekundarstufe I + II. Springer Spektrum.

Ingenkamp, K. & Lissmann, U. (2008). Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik (6. Aufl.). Beltz.

Junco, R. & Clem, C. (2015). Predicting course outcomes with digital textbook usage data. The Internet and Higher Education, 27, 54–63.

Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hrsg.). (2017). Bildung in der digitalen Welt: Strategie der Kultusministerkonferenz.

Sekretariat der Kultusministerkonferenz (Hrsg.). (2021). Lehren und Lernen in der digitalen Welt: Die ergänzende Empfehlung zur Strategie "Bildung in der digitalen Welt".