Erfassung diagnostischer Fähigkeiten von Geographielehrkräfte im Bereich des systemischen Denkens
Eine qualitative Analyse auf Basis von Videovignetten
Systemisches Denken wird als wesentliche Kompetenz des 21. Jahrhunderts betrachtet, um komplexen Herausforderungen, wie Klimawandel und Globalisierung, adäquat zu begegnen. Diese Fähigkeit gliedert sich in zwei Dimensionen: die Systemmodellierung und die systemadäquaten Handlungsintentionen (z. B. Mehren, Rempfler 2022). Sie ermöglicht Lernenden, als „Akteure von Morgen“ (Brockmüller 2019, S. 3) fundierte Entscheidungen zu treffen. Empirische Studien zeigen jedoch, dass Lernende ohne didaktische Interventionen oft ein unzureichendes Systemverständnis aufweisen (Ben Zvi Assaraf, Orion 2005, 2010; York et al. 2019). Gezielte Lernumgebungen können dazu beitragen, systemisches Denken zu fördern (Tripto et al. 2017; Verhoeff et al. 2018; York et al. 2019). In diesem Kontext können die „Habits of a System Thinker“ (Benson, Marlin 2017) als Hilfsmittel dienen, da sie durch prägnante Sätze Verhaltensweisen von guten Systemdenkenden vermitteln (Nagel et al. 2008). Im Gegensatz zu empirisch untersuchten Kompetenzmodellen (z. B. Rieß et al. 2015; Mehren, Rempfler 2022) fokussieren diese Strategien eher den prozessualen Charakter des systemischen Denkens. Sie wurden bereits von mehreren Studien bei der Bearbeitung von Concept Maps nachgewiesen (Meister 2020; Karkdijk et al. 2021).
Um Lernende bei der Kompetenzentwicklung bestmöglich zu begleiten, sind diagnostische Fähigkeiten von Lehrkräften entscheidend. Sie gelten als „zentrale berufsbezogene Fähigkeiten“ (Artelt, Gräsel 2009, S. 157), da dadurch der Unterricht auf die individuellen Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten wird (Helmke, Lenske 2013). Auf Basis dieser Annahmen werden diagnostische Fähigkeiten als ein Zusammenspiel von allgemeinem pädagogischem Wissen und fachdidaktischem Wissen – damit als fachbezogen – eingeordnet (Brunner et al. 2011; Moser Opitz 2022). Diagnostik wird sowohl durch Urteilsgenauigkeit (z. B. Schrader 2013) als auch durch die Vorgehensweise beim Diagnostizieren (z. B. v. Aufschnaiter et al. 2020) operationalisiert. Aus diesen Ansätzen und empirischen Studien lassen sich Qualitätskriterien ableiten, die bspw. Kompetenzorientierung und die Verknüpfung von Theorie- und Empiriebezügen betonen (Beretz 2021; Münster 2022). Bisherige Studien zeigen, dass Lehramtsstudierende als Noviz*innen oberflächliche und sichtbare Elemente in der Diagnostik fokussieren, während Fachleitende als Expert*innen tiefgreifendere Elemente, die einer interpretativen Leistung bedürfen, thematisieren (Scholten, Sprenger 2020; Streitberger, Ohl 2020; Beretz 2021).
Trotz der angenommenen Fachspezifität und der hohen Relevanz der diagnostischen Fähigkeiten wurde das Konstrukt Diagnostik kaum in der Geographiedidaktik untersucht. Insbesondere liegt eine Forschungslücke bei Studien, die sich mit Geographielehrkräften befassen vor, da in bisherigen Studien vorwiegend Lehramtsstudierende untersucht wurden. Ausgehend von diesen Desiderata besteht die Haupterkenntnis der Studie darin, dass die fachbezogenen diagnostischen Fähigkeiten von Geographielehrkräften im Bereich des systemischen Denkens analysiert werden. Dabei werden die Diagnosegegenstände, der diagnostische Prozess, die Qualität und die Veränderungen berücksichtigt, wobei die theoretische Grundlage auf dem Ansatz der Forschenden v. Aufschnaiter et al. (2020) basiert.
Zur Erhebung der diagnostischen Fähigkeiten wurden Videovignetten aus einer vorherigen Studie (Meister 2020) entwickelt und mehrfach validiert. Sie dienen zusammen mit einem Arbeitsauftrag als Erhebungsanlass (Scholten et al. 2019), der Lehrkräften ermöglicht, offen zu diagnostizieren. Insgesamt diagnostizieren Lehrkräfte zwei Videovignetten und zwei Lernprodukte in einem Erhebungszeitpunkt. Dabei enthält eine Videovignette eine Situation zur Systemmodellierung und die andere umfasst eine Situation zu den systemadäquaten Handlungsintentionen (vgl. Mehren, Rempfler 2022). Nach dem ersten Erhebungszeitpunkt erhalten die Lehrkräfte einen fachdidaktischen Prompt zum systemischen Denken und Diagnostik, um Wissensbestände zu aktivieren. Es folgt ein zweiter kongruent ablaufender Erhebungszeitpunkt. Die Datenauswertung erfolgt mithilfe der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz und Rädiker (2022). Neben einer kategorienbasierten Auswertung werden zwei vertiefte Einzelfallanalysen und ein fallvergleichender Blick durchgeführt.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass alle Geographielehrkräfte in der Lage sind, Aspekte des systemischen Denkens zu identifizieren und zu diagnostizieren. Es werden jedoch auch andere Aspekte, wie Gruppeninteraktion oder Beteiligungsgrad, berücksichtigt, was auf eine holistische Sichtweise hinweist. Innerhalb der vertieften Einzelfallanalysen wurden typische Muster im diagnostischen Prozess, Veränderungen der Theoriebezüge und spezifische Handlungsstrategien bei den Komponenten des diagnostischen Prozesses identifiziert. Zudem existieren Qualitätsunterschiede bei verschiedenen Lehrkräften: Einige können zwar eine systemisch relevante Situation wahrnehmen, jedoch werden die Aktivitäten der Lernenden nicht eingeordnet und beurteilt, was eine Ableitung einer adäquaten Fördermaßnahmen erschwert. Dies deutet darauf hin, dass diese Lehrkräfte nur eine etwas stärkere Ausprägung der diagnostischen Fähigkeiten als Lehramtsstudierende aufweisen (Scholten, Sprenger 2020; Streitberger, Ohl 2020; Beretz 2021). Einigen wenigen Lehrkräften gelingt es die beobachteten Situationen adäquat zu beurteilen und zu fördern. Qualitätsunterschiede könnten möglicherweise durch das vorhandene Fachwissen zum systemischen Denken erklärt werden. Daher deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Qualität der Diagnostik nicht nur an der Vorgehensweise, sondern auch an den Diagnoseinhalt gekoppelt ist. Dies stützen auch theoretische Annahmen zur Diagnostik, die diese sowohl beim Fachwissen als auch beim fachdidaktischen Wissen einordnen (Brunner et al. 2011; Moser Opitz 2022).
Durch den vertieften Blick auf die Vorgehensweise konnte die Studie Vorschläge für eine Differenzierung der theoretischen Modellierung unterbreiten. Zudem konzipiert sie erste Ideen zur Spezifizierung von prozessbezogenen Qualitätsmerkmalen für zukünftige Forschungen. Dadurch leistet die Studie einen wertvollen theoretischen und empirischen Beitrag zur geographiedidaktischen Forschung.
Artelt, C., Gräsel, C. (2009): Diagnostische Kompetenz Von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 23, Heft 34, S. 157–160.
Aufschnaiter, C. v., Theyßen, H., Krabbe, H. (2020): Diagnostik Und Leistungsbeurteilung Im Unterricht. In: Kircher, E., Girwidz, R., Fischer, H. E. (Hrsg.): Physikdidaktik | Grundlagen. Berlin, Heidelberg, 529-571.
Ben Zvi Assaraf, O., Orion, N. (2005): Development of System Thinking Skills in the Context of Earth System Education. In: Journal of Research in Science Teaching 42, Heft 5, S. 518–560.
Ben Zvi Assaraf, O., Orion, N. (2010): System Thinking Skills at the Elementary School Level. In: Journal of Research in Science Teaching 47, Heft 5, 540-563.
Benson, T., Marlin, S. (2017): The Habit-Forming Guide to Becoming a Systems Thinker. Pittsburgh.
Beretz, A.-K. (2021): Diagnostische Prozesse Von Studierenden Des Lehramts.
Brunner, M., Anders, Y., Hachfeld, A., Krauss, S. (2011): Diagnostische Fähigkeiten von Mathematiklehrkräften. In: Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss, S., Neubrand, M. (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster, New York, München, Berlin, 215-234.
Helmke, A., Lenske, G. (2013): Unterrichtsdiagnostik als Voraussetzung für Unterrichtsentwicklung. Beiträge zur Lehrerbildung 31 (2013) 2, S. 214-233. In: Beiträge zur Lehrerbildung 31.
Karkdijk, J., van der Schee, J., Admiraal, W. (2021): Strategies Used by Small Student Groups to Understand a Geographical Mystery. In: Journal of Research and Didactics in Geography 10, Heft 1, S. 5–21.
Mehren, R., Rempfler, A. (2022): Assessing Systems Thinking in Geography. In: Bourke, T., Mills, R., Lane, R. (Hrsg.): Assessment in Geographical Education: An International Perspective. Cham, S. 31–54.
Meister, J. (2020): Systemisches Denken Bei Schülerinnen Und Schülern Unterschiedlicher Kompetenzstufen. Eine Qualitative Prozess- Und Produktanalyse Am Beispiel Der Bearbeitung Eines Geographischen Mysterys. Dissertation. Gießen, Justus-Liebig-Universität Gießen.
Moser Opitz, E. (2022): Diagnostisches Und Didaktisches Handeln Verbinden: Entwicklung Eines Prozessmodells Auf Der Grundlage Von Erkenntnissen Aus Der Pädagogischen Diagnostik Und Der Förderdiagnostik. In: Journal für Mathematik-Didaktik 43, Heft 1, S. 205–230.
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Riess, W., Schuler, S., Hörsch, C. (2015): Wie Lässt Sich Systemisches Denken Vermitteln Und Fördern? Theoretische Grundlagen Und Praktische Umsetzung Am Beispiel Eines Seminars Für Lehramtsstudierende. In: Geographie aktuell & Schule 37, Heft 215, S. 16–29.
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Verhoeff, R. P., Knippels, M.-C. P. J., Gilissen, M. G. R., Boersma, K. T. (2018): The Theoretical Nature of Systems Thinking. Perspectives on Systems Thinking in Biology Education. In: Frontiers in Education 3.
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