
Diagnostische Kompetenz in der Lehrkräftebildung fördern
Theoretischer Hintergrund
Die zunehmende Heterogenität in Schulklassen stellt eine zentrale Herausforderung für Lehrkräfte dar. Bereits zu Schulbeginn zeigen sich bei Kindern erhebliche Unterschiede in ihren mathematischen Vorerfahrungen und Vorkenntnissen (z. B. Schmidt & Weiser, 1982; Selter, 1995; Grassmann et al., 2002; Clarke et al., 2008; Deutscher, 2012; Lüken 2012; Fritz et al., 2017). Um diesen unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen der Lernenden gerecht zu werden, benötigen Lehrkräfte eine ausgeprägte diagnostische Kompetenz (Leuders et al., 2020; Loibl et al., 2020). Insbesondere die situationsgerechte Wahrnehmung, Interpretation und Nutzung von Schüler:innenäußerungen im Unterricht erfordert ein hohes Maß an diagnostischem Können (Shavelson et al., 2008; Loibl et al., 2020). Da Diagnosesituationen oft durch hohe Komplexität und Informationsdichte gekennzeichnet sind (z. B. Doyle, 1977; Sherin & Star, 2011), stellt das Treffen fundierter diagnostischer Urteile gerade für angehende Lehrkräfte eine besondere Herausforderung dar (Knievel et al., 2015; Larrain & Kaiser, 2022; Wirth et al., 2022). Vor diesem Hintergrund rückt die Frage in den Fokus, wie die diagnostische Kompetenz bereits in der Lehrkräftebildung systematisch gefördert werden kann. Eine Möglichkeit stellen Vignetten dar, die authentische Unterrichtssituationen simulieren und es angehenden Lehrkräften ermöglichen, praxisnah ihre diagnostischen Kompetenzen weiterzuentwickeln (Krammer & Reusser, 2005; Grossmann et al., 2009; Krammer, 2014; Sunder et al., 2016; Benz, 2020). Je nach Zielsetzung können diese Vignetten in unterschiedlichen Formaten gestaltet und flexibel in die Lehrkräftebildung integriert werden (z. B. Sunder et al., 2016; Friesen et al., 2018).
Forschungsstand
Studien belegen, dass der Einsatz von Vignetten die diagnostische Kompetenz fördern kann (z. B. Hoppe, 2020; Enenkiel, 2022; Kittel i. Vorb.). Dabei stellt sich die Frage, welches Vignettenformat den größten Lernzuwachs ermöglicht. Im Fokus der Untersuchung von Enenkiel (2022) steht die diagnostische Kompetenz im Bereich der Bestimmung von Längen, Flächen- und Rauminhalten in der Sekundarstufe – insbesondere das Wahrnehmen und Interpretieren von Lernprozessen sowie das Ableiten geeigneter Unterstützungsmaßnahmen auf der Videoplattform ViviAn. Der Einsatz von Videovignetten führte bei Mathematiklehramtsstudierenden zu einer größeren Verbesserung der diagnostischen Fähigkeiten als bei einer Kontrollgruppe, die zwar dieselben theoretischen Inhalte präsentiert bekam[SS1] , jedoch kein Training mit Videovignetten durchlief. Auch Kittel (i. Vorb.) untersuchte Diagnosekompetenzen mit Hilfe von Videovignetten, mit Schwerpunkt auf der Diagnosekompetenz im Umgang mit Funktionsgraphen. Es konnten ebenfalls positive Effekte nachgewiesen werden. Hoppe et al. (2020) untersuchten das spontane Diagnostizieren („on-the-fly“) von Schüler:innenvorstellungen im Biologieunterricht. Dabei zeigte sich, dass ein Training mit Fallvignetten – sowohl in Video- als auch in Textform – wirksamer war als eine reine Vermittlung diagnostischen Wissens ohne fallbasiertes Training. Ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Vignettenformaten war allerdings nicht feststellbar. Allen Studierenden wurden theorteische Inhalte zu diagnoserelevantem Fachwissen und Schüler:innenvorstellungen in zwei Sitzungen (90 min) präsentiert und alle führten ein 90-minütiges Diagnosetraining durch. Die Gruppe ohne fallbasiertes Tarining erhielt anstatt der Vignetten die Aufgabe, Unterricht zu planen, in dem die behandelten Schüler:innenvorstellungen adressiert werden. Friesen et al. (2018) verglichen drei Vignettenformate (Test-, Comic- und Videovignetten) im Hinblick auf die Möglichkeit, die fachdidaktische Analysekompetenz im Mathematikunterricht zum Umgang mit Darstellungen zu erheben. Alle Formate erwiesen sich als gleichwertig geeignet. In der Studie von Moreno und Ortegano-Layne (2008) wurden schriftliche Fallbeispiele, animierte Szenen und Videoaufnahmen zu den Themen Klima, Geographie und Wirtschaft eingesetzt. Die diagnostische Kompetenz wurde hier als Fähigkeit verstanden, theoretisches Wissen auf konkrete Unterrichtssituationen zu übertragen. Die Ergebnisse zeigen, dassVideovignetten, insbesondere mit Best-Practice-Beispielen, größere Lernzuwächse bewirken konnten. Die Videobeispiele wurden zudem als besonders lebensnah und nachvollziehbar bewertet. Syring et al. (2015) verglichen Text- und Videovignetten im Kontext von Classroom-Management. Die diagnostische Kompetenz bezieht sich hier vor allem auf die Fähigkeit, Unterrichtssituationen zu analysieren und pädagogische Prinzipien darin zu erkennen und anzuwenden. Während Textvignetten von angehenden Lehrkräften als weniger kognitiv belastend empfunden wurden, können keine Aussagen über die Überlegenheit eines Formats in Bezug auf den diagnostischen Kompetenzzuwachs getroffen werden.
Trotz der aufgezeigten Wirksamkeit vignettenbasierter Trainingsformate in unterschiedlichen Disziplinen zeigen sich bislang uneinheitliche Befunde hinsichtlich ihrer konkreten Wirksamkeit und Effektivität. Insbesondere ist unklar, ob Text- oder Videovignetten einen größeren Beitrag zur Förderung diganostischer Kompetenzen leisten. Es fehlt zudem bislang an empirischen Untersuchungen, die sich gezielt mit mathematikspezifischen Diagnosen im Bereich der Arithmetik befassen und systematisch den Einfluss unterschiedlicher Vignettenarten auf die Förderung der diagnostischen Kompetenz analysieren. Ziel der Dissertation ist es, ein vignettenbasiertes Training zur Förderung der diagnostischen Kompetenz bei angehenden Grundschullehrkräften zu entwickeln. Es sollen Video- und Bild-Text-Vignetten mit Hilfe der Videoplattform ViviAn erstellt und in Bezug auf den diagnostischen Kompetenzzuwachs der Studierenden verglichen werden.
Methodisches Vorgehen
Das vorliegende Dissertationsvorhaben untersucht, inwiefern sich ein Zuwachs in der diagnostischen Kompetenz von Grundschullehramtsstudierenden im Fach Mathematik – konkret im Bereich Arithmetik –durch ein vignettengestütztes Training nachweisen lässt. Dabei wird insbesondere untersucht, ob sich durch den Einsatz von Bild-Text- bzw. Videovignetten innerhalb der Videoplattform ViviAn vergleichbare Effekte auf die Kompetenzentwicklung erzielen lassen. Die theoretische Grundlage bildet das DiaCoM-Modell, das diagnostische Urteile in bildungsrelevanten Kontexten als kognitive Prozesse der Lehrenden über Schüler:innen beschreibt (Leuders et al., 2020). Im Zentrum stehen dabei die drei aufeinander aufbauenden Schritte: Beschreiben, Interpretieren und Entscheiden. Entsprechend richtet sich der Fokus dieser Arbeit sowohl auf das diagnostische Denken im Sinne dieses Prozesses als auch auf die daraus abgeleitete theoretische Handlungsplanung im schulischen Kontext.
Zur Erhebung der Ausgangskompetenz wird ein Pretest durchgeführt, der jeweils eine Bild-Text- sowie eine Videovignette umfasst. Die Vignetten behandeln typische Situationen aus dem mathematischen Anfangsunterricht mit dem Themenschwerpunkt Arithmetik. Die Erhebungen werden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach den Verfahren von Kuckartz und Rädiker (2022) basierend auf Mayring (2015) ausgewertet, wobei die Argumentationsstruktur der Studierenden sowie der Rückgriff auf behandelte Inhalte in der Vorlesung im Fokus stehen.
Im Anschluss erfolgt das Training in drei Gruppen.
- Experimentalgruppe 1 bearbeitet im Training ausschließlich Bild-Text-Vignetten,
- Experimentalgruppe 2 bearbeitet im Training ausschließlich Videovignetten,
- die Kontrollgruppe fungiert als Wartekontrollgruppe und durchläuft das Training (wahlweise mit Video- oder Bild-Text-Vignetten) erst nach Abschluss des Posttests.
Der Posttest ist in Analogie zum Pretest aufgebaut und dient der Erhebung der Kompetenzentwicklung nach der Interventionsphase. Auch hier erfolgt die Auswertung der studentischen Diagnosen mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse. Zur Bewertung der Effekte des Trainings werden die Kompetenzentwicklungen der beiden Experimentalgruppen miteinander sowie mit jener der Kontrollgruppe verglichen.
Literatur
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